Zu Besuch bei den „Jungen Wilden“: Wirth Architekten, Bremen
BREMEN. Der Begriff „Junge Wilde“ bezog sich ursprünglich auf eine Gruppe Physiker, die sich der Quantenmechanik verschrieben hatten. Heute gilt er für alle Branchen – doch was bedeutet er, vor allem in der Architekturszene?
Jung und wild sind relative Begriffe
Schon das Adjektiv „jung“ ist relativ. Bei Architekten schraubt sich die Zahl gerne auf 40+ hoch. Nicht nur, weil bis zur Gründung eines eigenen Büros einige Vorstufen zu durchlaufen sind, sondern auch, weil die Durststrecke bis zu einer einigermaßen stabilen Auftragslage und Aufmerksamkeit von außen einen langen Atem und ein großes Reservoir an Eigenmotivation verlangt. Und was heißt „wild“? Mit schrägen Bauten aufzufallen? Neue Baustoffe zu erfinden? Sprühende Gedanken zu den großen sozialräumlichen Herausforderungen zu haben?
Alle Wege führen (zurück) nach Bremen
Schalten wir einen Gang runter und besuchen zwei Brüder, die – 1980 und 1983 geboren – nach der Definition oben zur den „jungen Architekten“ zählen: Jan und Benjamin Wirth. Sie wählten das gleiche Studienfach, schlugen aber zunächst getrennte Pfade ein: Jan Wirth studierte in Bremen, Lübeck und Rom, Benjamin Wirth in Paris und Berlin. Die ersten Schritte in die Praxis unternahm ebenfalls jeder für sich; ersterer arbeitete unter anderem in Versailles, letzterer in Berlin. Mit 32 respektive 29 Jahren, ja, durchaus noch jung, fanden sie 2012 wieder in Bremen und im eigenen Büro unter dem Namen Wirth Architekten zusammen.
Der steinige Pfad zum Vertrauen
Die erste Zeit beschreiben sie als steinig: „Wir sind froh, dass wir es bis hierhin geschafft haben, nochmal würden wir den Weg nicht gehen.“ Dabei sei die Architektenszene eigentlich offenherzig. Der Bund Deutscher Architekten BDA hat sie 2016 als Mitglieder berufen, 2017 folgte dann dessen Arbeitskreis Junger Architektinnen und Architekten AKJAA. Aber bis die Botschaft, dass auch Einsteiger in die Selbständigkeit bereits Berufserfahrung mitbringen und vielleicht die frischeren Ideen haben, zu potenziellen Bauherren durchdringt – das dauert. Und dann ist da noch dieses Paradox: Als Büromitarbeiter boxt man sich durch alle Leistungsphasen umfangreicher Projekte. Man ist also mit Beginn der Selbständigkeit für die meist überschaubaren Einsteigeraufgaben quasi überqualifiziert, muss sich aber dennoch als Einzelkämpfer(-paar) erst einmal das Vertrauen erarbeiten, was wiederum ohne vorzeigbares OEvre schwierig ist.
Kleines Haus, große Wirkung
Für das Duo Wirth kam der große Durchbruch mit einem kleinen Gebäude: dem sogenannten Remisenpavillon (2016). Ein klassischer Einstiegsauftrag aus der eigenen Familie, die auf dem elterlichen Hof eine Garage benötigte. Es wurde viel mehr! Ja, es lässt sich dort, wie gewünscht, der Traktor unterstellen und Brennholz lagern. Aber es ist darüber hinaus – jedenfalls im Sommer – auch ein beliebter Treffpunkt und Ort zum Feiern entstanden. Denn hier greift, was Benjamin Wirth so formuliert: „Was kann Architektur an Mehrwert liefern, damit man Spaß daran hat, sich im Raum aufzuhalten?“ Gelungen ist das mit diesem ganz simplen Bau durch die sorgfältige Auswahl und Bearbeitung des Materials: „Wir wollten die Handwerklichkeit und Unpräzision, die nur alte Backsteine bieten.“ Das Mauerwerk ist durchbrochen, lässt auch ohne Fenster natürliches Licht herein; umgekehrt leuchtet einem der kleine Bau in den Abendstunden einladend unter einer Baumgruppe entgegen.
Die Strahlkraft des Besonderen
Das blieb nicht unbemerkt. Die Tages- und auch Fachpresse sowie Preisjurys reagierten begeistert. „Der Raum zeugt von jener hohen Baukultur materieller und ästhetischer Nachhaltigkeit, die zwischen kleinen und großen Bauaufgaben klugerweise nicht unterscheidet“, so die Jury des BDA-Preises Niedersachsen. Gerhard Matzig bescheinigt in der Süddeutschen: „Die Garage […] ist nicht nur ein kleiner, sondern ein ganz großer Favorit zur Beantwortung der Frage, wie das Besondere in die Welt kommt.“ Schließlich rangierte der Pavillon auch auf der Longlist zum DAM Preis 2017 und erhielt eine „Special Mention“ beim Fritz-Höger- Preis 2017. Ein Durchbruch also? Die Brüder waren von der üppigen Resonanz auf ein so kleines und versteckt liegendes Gebäude beinahe überrollt: „Ja, das hat uns sehr geholfen und tut es noch.“
Vom kantigen Carport zum kurvigen Barport
Drei Jahre später erreichte das Bremer Büro ein direkter Folgeauftrag aus Berlin. Die Bauherrin wünschte sich zunächst einen Klon des Remisenpavillons als Carport – die vorwitzige Autokorrektur des Schreibprogramms sorgte für die Bezeichnung „Barport“, die dann augenzwinkernd beibehalten wurde. Wegen des Bestands fiel die Wahl ebenfalls auf Backstein. Die Architekten konnten aber mit der Idee überzeugen, dieses Mal graue Steine zu verwenden und sie mit zwei Stützen und einer Deckenplatte aus Beton zu kombinieren. Die Massivität der Decke und die filigran gemauerte Rückwand liefern reizvolle Gegensätze; um eine alte Kiefer zu integrieren, legt sich der Unterstand zweifach in die Kurve. Sind nun der Remisenpavillon und der Barport wilde Gebäude? Wenn man den Begriff ein wenig großzügiger auslegt: Ja! Denn in beiden Fällen ist das Thema Schutzdach neu- und weiterinterpretiert, und der Backstein verbindet die jeweilige Vorgeschichte des Orts frisch und ungezwungen mit der Gegenwart.
Wo Architektur zur Skulptur wird
So auch beim jüngst fertiggestellten Wohn- und Geschäftshaus „Am Hulsberg“, einem Wettbewerbsgewinn. Es liegt an einer Einfallstraße in die Bremer Innenstadt und zugleich inmitten einer sehr heterogenen Nachbarschaft. Knifflig wardieAufgabe, auf der kleinen Parzelle mit den Abstandsflächen und der Höhenlimitierung umzugehen. Dadurch entstand die Staffelung der Geschosse, die dem Haus einen eigenwilligen Charakter verleiht. Das Motiv der 45-Grad-Erker haben die Architekten im Quartier bereits vorgefunden. Zunächst als Putzfassade geplant, setzte sich dann trotz des relativ engen Budgets doch eine dauerhaftere Ziegelfassade aus aufgesetzten Riemchen durch. Auch damit nimmt das Haus Kontakt mit der Umgebung auf, denn entlang der Straße sind einige herausgehobene Häuser, eine Apotheke, ein Kino, ein Dreißigerjahre-Bau, Backsteingebäude. „Die Idee war, aus den verschiedenen Themen, die aus verschiedenen Richtungen auf das Haus zulaufen, eine zusammengeknotete Skulptur zu machen, die ein Gesicht zum Platz hat“, fassen die Schöpfer zusammen.
Liebling Backstein?
Erfolgsgarant Backstein: Haben Jan und Benjamin Wirth gar ihr Lieblingsmaterial gefunden? So ausschließlich wollen sie das nicht verstanden wissen, aktuell beispielsweise ist ein gemischt genutztes Haus in Sichtbeton in Planung. Dennoch: „So schnell kommen wir aus der Nummer nicht mehr raus“, stellen beide amüsiert fest und sind rasch wieder bei den Vorzügen des Ziegelmauerwerks. Zum einen von der norddeutschen Bautradition geprägt – „Der Backstein ist so nahbar und vertraut“ – schätzen sie die Vielseitigkeit des handlichen Moduls. „Mit dieser kleinen Körnung kann man alles nachmodellieren. Das ist wie aus Legosteinen das World Trade Center nachzubauen.“ Nicht so sehr Haptik und Textur zeichnen das Material für sie aus, sondern damit Bezüge herstellen zu können: „Wenn man ein bisschen kontextuell baut, ist man ganz schnell beim Backstein.“
Auf den richtigen Baustoff gesetzt
Der Baustoff hat nicht umsonst seinen festen Platz in den Bebauungsplänen: In der diffusen Grauzone zwischen Entwurfs- und Genehmigungsplanung steckt ein Projekt am Hafenbecken des Bremer Stadtteils Vegesack. Hier entsteht ein neues Quartier, wo Wirth Architekten zwei Baufelder bearbeiten. Entstehen werden Wohnhäuser mit fünf Meter hohen Erdgeschossen, für die die Architekten eine Vielzahl von Vorschlägen machen: Hier können mit einer Zwischendecke Hochparterrewohnungen eingerichtet werden, hier können aber auch eine Werkstatt, eine Bar oder eine Galerie einziehen. Wieder war ein Wettbewerb vorangegangen; die beiden Brüder haben – ohne, dass dies vorgegeben war – als einzige Backsteinfassaden vorgeschlagen. Inzwischen schreibt der Bebauungsplan dieses Material vor.
Wilder Seitenpfad in die Zukunft
Aber zurück zu den „Jungen Wilden“: Reizt es Jan und Benjamin Wirth, sich auch experimentell mit den Möglichkeiten des Materials Backstein zu befassen? Tut es! „Interessant ist zum Beispiel die Kombination aus Holz- und Backsteinbau“, bestätigen sie. „Das muss nicht zwangsläufig traditionell aussehen. Da können sich vollkommen neue Formen entwickeln, wenn der Stein plötzlich hängt und nicht mehr vorgemauert ist. Uns interessieren auch Techniken für leichte Schalenkonstruktionen sehr. Wir haben die Vision, dass künftig Drohnen Gewölbe mauern können, ohne Beton, nur durch Sand belastet. Das könnte ein Seitenpfad in die Zukunft sein: Lowtech statt Hightech.“
Die „Jungen Wilden“ haben es schwer in der Architekturszene. Was könnte passieren, um den Start für Newcomer zu erleichtern?
Wirth Architekten: Es würde sehr helfen, wenn in öffentlichen Ausschreibungen eine Quote „junge Büros“ vorgeschrieben wäre. Wenn öffentliche Bauherren das „Risiko“ eingehen, ein junges Büro zu beauftragen, läge das Risiko für die Entwicklung von Nachwuchsarchitekten bei der gesamten Gemeinschaft und nicht bei einem privaten Bauherren. Das wäre nur fair, denn schließlich erwartet die Gesellschaft ja auch von den Architekten, dass sie gemeinwohlorientiert denken und über die unmittelbare Aufgabe hinaus eigenständig das Ganze im Blick behalten.
Schafft das Wettbewerbswesen, um das viele Länder Deutschland beneiden, keine Abhilfe?
Wirth Architekten: Auch dort ist es schwierig, als Newcomer Fuß zu fassen, denn meist sind etablierte Büros gesetzt, die zur jeweiligen Aufgabe bereits Referenzprojekte vorweisen können. Und bei VGV-Prozessen geht es nur nachrangig um architektonische Qualität, vielmehr um einen reibungslosen Ablauf. Da könnte die öffentliche Hand die Architekten mehr fördern. Die Belgier haben das gezeigt mit ihrem „Vlaams Bouwmeester“ (flämischem Baumeister) Erik Wieërs. Da ist eine andere Förderkultur entstanden. Und auch schon zuvor eine sehr lebhafte Architekturszene, die aus jungen Leuten besteht.
Was raten Sie jungen Architekten, nachdem für Sie inzwischen das Tal durchschritten ist?
Wirth Architekten: Am Ball bleiben, sich an vielen Wettbewerben beteiligen und wo immer möglich sichtbar werden. Das geht auch mit Projekten, nach denen keiner gefragt hat. Auf jeden Fall nicht warten, bis jemand auf einen zukommt – öffentliche Auftraggeber direkt ansprechen.