Thomas Struth: Fotografien 1978–2010
Der Fotokünstler Thomas Struth zählt seit den 90er Jahren zu den wichtigsten und einflussreichsten Fotografen, der seinen eigenen Stil in der Entwicklung von thematischen Serien gefunden hat. Geprägt von der Düsseldorfer Schule wurde er durch seine Werkserie über Straßen in Deutschland, den USA oder Japan bekannt.
Als Schüler von Hilla und Bernd Becher profitierte er von deren offenem und diskursivem Unterricht und ihrer Verbindung von der Fotografie mit anderen Bereichen wie der Literatur, Wirtschaft, Politik, Malerei und dem Film. Diese Monographie zur begleitenden retrospektiven Ausstellung gibt einen Überblick über das künstlerische Schaffen des Fotografen aus den letzten drei Jahrzehnten. Mehr als 300 Abbildungen, Texte von Armin Zweite, Anette Kruszynski, James Lingwood, Ruth HaCohen und Yaron Ezrahi oder Tobia Bezzola und eine ausführlich kommentierte Chronologie des künstlerischen Oeuvre Thomas Struths vermitteln einen wirklich sehr umfassenden Einblick.
Durch die Dokumentation des jahrzehntelangen Schaffens wird die künstlerische Entwicklung Thomas Struths deutlich. Verzichtete er anfangs noch ganz auf eine digitale Nachbearbeitung, greift er inzwischen auf eine zurückhaltende Bildbearbeitung zurück, um der ästhetischen Erscheinung eines Bildes mehr Gewicht zu verleihen oder die Erkennbarkeit von Details zu verdeutlichen. Auch der Einfluss seiner Reisen nach Italien, Japan, China oder Brasilien auf seine künstlerische Entwicklung wird in den begleitenden Texten immer wieder betont. Gerade durch Struths fotografische Themenstrecken sind diese Einflüsse und die dadurch entstehenden Weiterentwicklungen deutlich zu erkennen.
In dieser veröffentlichten Dokumentation werden sowohl die bekannten Themenserien wie die Straßen-, Familien-, Museen-, Paradies- oder Andachtsbilder abgebildet als auch bisher unveröffentlichte Werke. Die Straßenbilder sind für Thomas Struth eine von zwei bisher nicht abgeschlossenen Werkserien, wenngleich ihn diese Motive seit seinen fotografischen Anfängen begleiten. 1976 veröffentlichte er das erste Mal 49 Fotografien von Düsseldorfer Straßen. Mit der Unterstützung von Bernd Becher verbesserte Struth seine Fototechniken und weitete seine Motive von den Düsseldorfer Straßen auf frei komponierte schwarzweiß Aufnahmen aus. Zu den menschenleeren Straßen aus Europa kamen später auch Aufnahmen von asiatischen Metropolen mit dem charakteristischen Menschengewimmel dazu. Alle diese Fotografien folgen seit jeher einem zentralsymmetrischen Muster, die Struth mit einem in der Mitte der Straße positionierten Stativ aufgenommen hat.
1989 begann Thomas Struth mit einer genauen Vorstellung an seinen Museumsbildern zu arbeiten. Er wollte festhalten, wie Museumsbesucher im Louvre in Paris, im Kunsthistorischen Museum in Wien, in der National Gallery in London, im Rijksmuseum in Amsterdam sowie im Art Institute of Chicago die Gemälde wahrnehmen. Struth wollte die heutige Zeit des Betrachters mit der historischen Zeit des Bildes verknüpfen und darstellen, wie historische, religiöse oder politische Bilder heute wahrgenommen werden. Er wartete, bis die Besucher sich in eine Komposition begeben hatten, so dass die Bilder weniger Schnappschüsse, als das Ergebnis eines präzisen Kalküls und dem Gespür für den richtigen Augenblick sind. Im Jahr 2001 begann Struth die Aufnahmen des Publikums zu inszenieren, da die zufälligen Konstellationen nicht mehr seinen Vorstellungen entsprachen. Die letzten Aufnahmen dieser Werkreihe entstanden 2005 im Prado in Madrid.
Mitte der neunziger Jahre vertiefte Thomas Struth seine Ideen von den Paradies-Bildern. In den Regenwäldern von Brasilien, Peru, Hawaii oder Australien suchte und fand er die passenden Motive. Er selbst bezeichnet diese Bilderreihe als seine „intuitivste Werkgruppe“ und will mit den Motiven die besondere Art des Schauens, die derart hyperdichte Bilder auslösen können, hervorrufen. In der Tat wird der Betrachter auf den meisten Bildern mit einem all-over aus Wald und Dschungel konfrontiert. Das Dickicht bleibt dabei durchlässig in der Tiefe und stellt nichts Bedrohliches oder gar Sehnsüchtiges dar, sondern zielt auf das Paradiesische im Augenblick des Sehens. Die Aufnahmen von religiösen oder kulturellen Kultstätten sind eine von Thomas Struth zwischen 1995 und 2003 erschaffene Werkgruppe, die Gruppen von Menschen vor diesen Stätten zeigt. Die Aufnahmen entstanden unter anderem im Mailänder Dom, in der Kathedrale von Monreale bei Palermo, in buddhistischen Tempelanlagen in Japan oder im Notre Dame de Paris. Für Struth sind diese Orte Möglichkeiten eine emotionale Bündelung überwältigender Erfahrungen festzuhalten. Die Ursprünge dieser Ideen sind dabei deutlich auf Struths Museumsbilder zurückzuführen.
Die Familienporträts sind neben dem Straßen-Projekt die einzigen Bilderreihen, die für Thomas Struth noch nicht abgeschlossen sind. Die Idee für die Porträts entstand in Zusammenarbeit mit dem Psychoanalytiker Ingo Hartmann. Die Bedingungen bei den Aufnahmen werden immer gleich gehalten: Bis auf wenige Ausnahmen geht die Initiative vom Künstler aus, er positioniert die Kamera und wählt die Brennweite und den Bildausschnitt. Der Aufnahmeort wird in Absprache mit der Familie abgestimmt und diese legt auch Bekleidung, Aufstellung und Körperhaltung fest, der Blick ist dabei immer zentral in die Kamera gerichtet. Von den bisher 55 Familienporträts stellte Struth nur 35 aus, die restlichen existieren nur als Abzüge, die Struth den fotografierten Familien schenkte.
Nach der Vollendung der Museumsfotografien im Prado 2007, begann Thomas Struth sich nach neuen Projekten umzusehen. Sein Interesse galt in dieser Zeit den visuellen Strukturen von komplexen technischen Anlagen. Die ersten Motive fand er auf einem Werftgelände, auf einer gigantischen Halbtaucher-Bohrinsel oder in den Werkstätten der NASA. Diese Orte begeisterten Struth durch die Symbiose von Wissenschaft und Politik sowie die ständige Verschiebung der Grenzen des technisch Machbaren. Weitere Aufnahmen entstanden in den letzten Jahren im Max-Planck-Institut für Plasmaphysik oder in einem Kernkraftwerk. Diese neue Werkgruppe reflektiert Struths Interesse am „Höchstmaß menschlicher Anstrengung“, was er auch mit seinen Bildern ausdrücken will: Die veröffentlichten Aufnahmen aus dieser Serie zählen zu den größten Formaten, die Struth bisher realisiert hat.
Wie auch bei diesen neuen Werkserien ist das übergeordnete Thema der Akt des Sehens und dessen Bedeutung im Wahrnehmungskontext der Bilder. Thomas Struth versucht mit seinen Bildern der Wirklichkeit durch die fotografische Abbildung eine Form zu verleihen, die durch seine eigenen Motive geprägt ist. Seine Mittel dabei sind die Nähe oder Ferne zu einem Objekt, Schärfe oder Unschärfe, kleine und große Formen, Wiederholungen oder Variationen. Dabei hat der Künstler sich statt der Tendenzen künstlicher Manipulation in der Fotografie einem Realismus im Spannungsfeld zwischen Alltäglichem und Spektakulärem verschrieben. Diese Monographie über das künstlerische Arbeiten des Künstlers Thomas Struth verschafft durch die begleitenden Texte einen intensiven Blick auf die Ideen, Beweggründe und Motive des Künstlers. Eine weitere Besonderheit sind die abgebildeten, bisher unbekannten Arbeiten, die das Werk neben den bekannten Höhepunkten des Künstlers abrunden.