Neues Leben im Baukastensystem
„Was handwerklich solide ist und graue Energie bindet, sollte nicht abgerissen und mit hohem Energieaufwand noch einmal gebaut werden.“ Damit fasst der Architekt Reinhard Martin prägnant zusammen, was die Sanierung und Erweiterung eines Mehrfamilienhauses in Münster auszeichnet, aber auch das gesamte Baugeschehen leiten sollte.
Den Bestand weiterbauen
Das Wohngebiet am nordöstlichen Stadtrand Münsters ist von Reihen- und Zeilenbauten geprägt, viele der Backsteingebäude stammen aus den 1920er- und 1930er-Jahren: eine unaufgeregte Nachbarschaft also. Auch das Haus, das der Architekt vorfand, stand schon seit 90 Jahren hier, ein eher düsterer, aber handwerklich einwandfreier und strukturell intakter Bau. Handlungsbedarf gab es dennoch, denn die 21 kleinen Wohnungen erfüllten weder in der Ausstattung noch im Zuschnitt die heutigen Ansprüche. Den Bestand weiterbauen, hieß also die folgerichtige Entscheidung; 420 Kubikmeter Ziegelmauerwerk und 390 Quadratmeter „völlig gesunde“ Holzbalkendecken blieben auf diese Weise erhalten.
Baukastensystem
Dem Haus wurden straßenseitig nach Westen und gartenseitig nach Osten Erweiterungen hinzugefügt, oben auf ein Staffelgeschoss gesetzt. Um Alt und Neu ablesbar zu lassen, ist Letzteres als leichter Holzrahmenbau mit Lärchenverkleidung ausgebildet. Die beiden neuen „Schichten“ an den Längsseiten bestehen wie der Bestand aus Backstein, allerdings im Gegensatz zu dessen dunklen Steinen aus solchen mit einem deutlich helleren Ton. Wie schon 90 Jahre zuvor stammen sie aus einer Ziegelei aus der Region. Auch die neuen Steine (wieder im Reichsformat) sind Wasserstrichziegel, was den Fassaden einen handwerklichen, abwechslungsreichen, dabei aber im Gesamtbild ruhigen Charakter verleiht. Der Anbau mit den Loggien zum Garten wurde wie der Sockel des Gebäudes hell verputzt. So entstand ein Baukastensystem aus eigenständigen Elementen. Die neuen Teile nehmen den Gründungshorizont des Altbaus auf und sind von ihm durch eine durchgehende Fuge getrennt, um unterschiedliche Setzungen zu vermeiden
Zeitgemäßes Wohnen
Im Inneren bleibt der Altbau ebenfalls präsent, nur dass die ehemalige Außenfassade nun zur Innenwand geworden ist. Sie blieb unverputzt, was nicht nur ästhetischen Reiz hat, sondern auch das Raumklima günstig beeinflusst. Die Wohnungen bewegen sich zwischen 62 und 86 Quadratmetern, haben teils nutzungsneutrale Räume und sind damit für kleine Familien, Paare und Singles gleichermaßen attraktiv. Und das über mehrere Generationen hinweg, denn alle Wohnungen sind barrierefrei gestaltet.
Zweischalige Wand
Reinhard Martin wusste auch die Dämmqualitäten der zweischaligen Wand mit Backstein zu nutzen und verzichtete auf ein Wärmedämmverbundsystem, von dem man annehmen muss, dass es früher oder später zu Sondermüll wird. Neben ökologischen Erwägungen spielte auch der Gesamteindruck des Hauses eine Rolle, das in der Kombination aus Backstein und Holz den Spagat zwischen zeitgenössischem Haus und harmonischem Einfinden in die Nachbarschaft ganz selbstverständlich meistert.
Um das Ziel zu erreichen, ein Haus im KfW- 70-Standard zu bauen – und das, obwohl 65 Prozent alter nur 35 Prozent neuer Bausubstanz gegenüberstehen – wählte der Planer drei Ansätze zur effektiven Dämmung. Der Neubau besteht aus zweischaligem Mauerwerk, das im Kern mit einer 14 Zentimeter starken Mineralwollschicht gefüttert ist. Die neuen einschaligen Wände im Altbau erhielten eine unkompliziert aufzubringende und zugleich sehr wirkungsvolle Innendämmung aus Kalziumsilikat-Platten (zehn Zentimeter). Zusätzlich wurde die Kellerdecke mit zehn Zentimeter Dämmung versehen, hier ein Polysterol-Dämmstoff, mit dem auch die andockenden Kellerwände oben über einen 60 Zentimeter breiten Streifen versehen wurden. Die Gefache des hölzernen Dachstuhls sind mit 24 Zentimeter starken Mineralwollmatten gefüllt und so als hochwärmegedämmtes Geschoss ausgebildet. „Wie eine wärmende Mütze“, formuliert es Reinhard Martin treffend.
Bezahlbare Qualität
Schwindelerregende Kosten generierte der qualitätsvolle und durchdachte Umbau nicht. Trotz Geothermie und Wärmepumpe zur Warmwassergewinnung und Heizung, Fahrstuhl, barrierefreien Wohnungen mit bodengleichen Duschen und einem insgesamt anspruchsvollen Innenausbau liegen die Gesamtkosten mit 1.990 Euro pro Quadratmeter nur leicht über den aktuellen Durchschnittswerten des Statistischen Bundesamts für Wohngebäude.
Reinhard Martin