Eine Fassade wie ein Vorhang
„Der etymologische Ursprung der Wand liegt im Textilen und in der Weberei. Wand wie Gewand als Umhüllung“, weiß der Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Ein Gastbeitrag von Roland Bondzio von behet bondzio lin architekten über Fassadengestaltung mit Backstein.
BAUHERR MIT ANSPRÜCHEN
Ein anspruchsvoller und konzeptionell denkender Bauherr, der Vertrauen fasst, über seinen eigenen Schatten springt und bereit ist, einen forschenden Entwurfsprozess zu begleiten, stand zu Beginn des Projektes für das neue Verbandsgebäude der Nordwestdeutschen Textil- und Modeindustrie in Münster.
DER WUNSCH NACH EINER TEXTILEN FASSADE
Der Verband setzt sich aus Unternehmen aus der Textilindustrie zusammen, die neben klassischen Textilien und Mode auch textile Überdachungen, Fassaden, Verkleidungen entwickeln und herstellen. Unter anderem unterstützten die Mitglieder Christo und Jeanne Claude bei zahlreichen Projekten. Prämissen des Neubauprojektes waren: sehr gute Arbeitsbedingungen für die 17 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, ein Raum für die zahlreichen Mitgliedertreffen und, damit verbunden, 70 Pkw-Stellplätze – so- wie vor allem der Wunsch nach einer textilen Fassade.
BEETHOVENS STEINERNES GEWAND
Die Vorgaben des gültigen Bebauungsplans gewährten große Freiheiten in der Ausformung, Lage und Positionierung des Gebäudevolumens sowie der Gestaltung der Außenräume. Allerdings war als relevantes Baumaterial für die Erscheinung des Gebäudes roter Ziegel festgelegt. Das scheinbare Dilemma, das sich aus dem nachvollziehbaren Wunsch nach einer textilen Fassade und den Vorgaben des Bebauungsplans ergab, führte die Planenden zu Max Klingers bekannter Beethoven-Skulptur: „Uns faszinierte hierbei die Wirkung des Steins in der Art, wie Max Klinger diesen gefügt und bearbeitet hat“, schil- dern behet bondzio lin architekten. „Das Gewand, das über Beethovens Knie liegt, ist ganz offensichtlich aus massivem Stein und vermittelt dennoch die Leichtigkeit eines fließenden Stoffes, der bei der kleinsten Bewegung oder dem leisesten Luftzug von seinen Knien zu gleiten scheint. Es ging uns in der Folge darum, diese fließend leichten Eigenschaften des textilen Tuchs mit den Eigenschaften des massiven Backsteins zusammenzuführen. Wir sahen hierin die Möglichkeit der Auflösung des Widerspruchs des Bauherrenwunsches zu den Vorgaben des Bebauungsplans.“
LOW-TECH-GEBÄUDE MIT AUSBLICK
Der Prozess der Festlegung des Volumens, seiner Ausrichtung und seiner Gliederung erfolgte innerhalb des Entwurfsprozesses sehr stringent. Er folgte den Themen der Inszenierung des Ankommenden an den Ort und der Geste der Einladung in das Gebäude, dem Ausblick aus dem Gebäude in den wunderbaren, direkt nördlich angrenzenden „Naturraum“ für alle Mitarbeiter sowie der energetischen Sinnfälligkeit für ein optimiertes Low-Tech-Gebäude. Durch die Nord-Nord- Westorientierung sind alle Räume gut mit Tageslicht versorgt und benötigen keinen Sonnenschutz. Dies erlaubt auch im Hochsommer den ganztägigen Ausblick der Mitarbeiter ins Grüne in einem angenehmen Raumklima.
ANNÄHERUNG AN DIE HÜLLE
Die Erscheinung der Fassade und ihrer technischen Umsetzung war ein deutlich längerer Prozess. „Über zahlreiche Lösungsansätze und Recherchen hat er uns letztlich zu dem über 2000 Jahre alten Prinzip von Sondersteinen geführt“, erklären behet bondzio lin architekten. „In zahlreichen Modellen und 1:1-Studien, die nur durch die enge Zusammenarbeit mit dem Backstein-Hersteller möglich waren, haben wir uns Schritt für Schritt der technischen Umsetzung der Fassade praktisch genähert.“
BEWEGUNG NACH GENAUEM BAUPLAN
Die Entwicklung der Erscheinung und die weitere Planung der Steinanordnung erfolgten parametrisch. So konnten die Planenden in der Entwurfsphase zahlreiche „Bilder“ testen, in der Ausführungsplanung die exakte Position und Anzahl der sechs Sondersteine definieren und bestimmen sowie letztlich auch die Pläne für die Umsetzung durch die Maurer erstellen. Insgesamt 74.000 Steine wurden von sieben Maurern an ihre jeweils genau definierte Stelle gesetzt. Die Anordnung der sechs Sondersteine und deren gradientenhaft ansteigendem Hub erzeugen aus Licht und Schatten eine scheinbar in Bewegung befindliche Fassade. Die Analogie zu einem leichten Tuch, über das der Wind streicht, entsteht.
Roland Bondzio