Ein alternatives Narrativ
Ein Bestand voller Geschichte, Unregelmäßigkeiten, Risse und Fehler: undjurekbrüggen demonstriert anhand von Luise 19E, wie erhaltenswert auch unscheinbare, zum Abriss verurteilte Gebäude sein können. Im Artikel beschreibt Jurek Brüggen, wie die Wiederverwendung von Backstein zu einem kollaborativen Prozess wird.
In der vormodernen Zeit waren das Weiterbauen und Wiederverwenden von Baumaterialien eine gängige Praxis. So wurde der um 300 n. Chr. im heutigen Split für den römischen Kaiser erbaute Diokletianspalast im Laufe der Jahrhunderte mit den vorhandenen Materialien umgebaut und immer wieder den neuen Bedürfnissen angepasst. Originalform und -nutzung gingen verloren, doch die Grundzüge und Bauteile des Palastes sind bis heute in der Altstadt der südkroatischen Stadt sichtbar. Waren einst die hohen Materialkosten Hauptgrund für das Wiederverwenden und Weiterbauen im Bestand, so war im Fall von Luise 19E die Problematik der grauen Energie und Ressourcenschonung die Motivation für den maximalen Erhalt eines vermeintlich unbedeutenden Garagenkomplexes. Das Vorhaben steht im Gegensatz zu dem vorherrschenden Motto: Weg mit dem Alten, her mit dem Neuen. Die Emissionen, die bei Abriss und Neubau entstehen, werden bei dieser Baupraxis außer Acht gelassen und die ökologischen Kosten ungenügend in den Preisen abgebildet. Luise 19E hingegen wurde – wenn auch mit deutlich weniger hohen Ansprüchen als ein römischer Palast errichtet – weitergenutzt und repariert. Aus baufälligen Garagen wurde in einem partizipativen Planungsprozess ein Gemeinschaftshaus und soziales Zentrum der Uferwerk eG. Dafür haben die Genossenschaftlerinnen und Genossenschaftler in Eigenarbeit aus dem Rückbau der Zwischenwände Backsteine für die Neuerrichtung gewonnen.
Das Gebäude in der Luisenstraße 19E bestand ursprünglich nur aus einer einfachen gemauerten Wand an der Grundstücksgrenze. Diese Mauer begrenzte das als Mosterei erbaute Fabrikgelände zur Havel. Aus dieser Grenzmauer entwickelte sich durch verschiedene Anbauten in Backstein ab 1950 über Jahrzehnte ein Garagenkomplex mit vier Garagen, Maschinen- und Abstellräumen. Das Bauwerk wurde pragmatisch nach Bedarf und Verfügbarkeit der Materialien erweitert und es entstand der vorgefundene Bestand voller Geschichte, Unregelmäßigkeiten, Fehler, Risse, unterschiedlicher Materialien und Backsteinformate. In vielen Arbeitsstunden wurden die Wände vorsichtig jeweils beginnend von der Mitte nach außen entfernt, um die Stabilität der Außenwände nicht zu gefährden. Erst nachdem das kontaminierte Dach abgenommen und der erste Teil des stabilisierenden Ringankers gegossen worden war, konnten die Zwischenwände – bis auf einen Meter in den Raum hereinragende Wandvorlagen – abgebrochen werden.
Die gewonnenen Backsteine wurden zunächst gereinigt. Dabei wurde bewusst nur der Mörtel abgeschlagen und abgekratzt und auf ein Entfernen der Witterungserscheinungen verzichtet, da das Gebäude die Heterogenität des Bestands behalten sollte. Die vielen Bauphasen lassen sich an den unterschiedlichen Formaten der Backsteine ablesen. Sortiert nach Größe wurden die Steine auf Paletten gestapelt – möglichst nahe am Ort der Wiederverwendung. Die kleinteiligen Backsteine dienten zur Wiederverwendung und zum Weiterbauen am Bestand, denn starke Unregelmäßigkeiten, Setzungen und Verformungen der alten Bauteile konnten so über die Fläche aufgenommen und ausgeglichen werden. Nicht mehr benötigte Öffnungen und Fehlstellen in den Fassaden wurden sortenrein mit einzelnen Steinen ausgebessert und geschlossen. Das Recycling des Backsteins eignete sich besonders gut dazu, in Kontinuität mit dem Bestand etwas Neues zu errichten – mit großen Öffnungen für einen hellen Innenraum mit neuen Funktionen. Die sichtbar belassene Heterogenität der Fassade aus den verschiedenen Mauerwerkssteinen erlaubte es, verschiedene Brutstätten und Vogelnester zu integrieren und damit Biodiversität und Kohabitation zu fördern. Auch die Steine, die sich über die Jahre zu stark verformt hatten, kamen zum Einsatz: bei Arbeiten im Außenbereich wie beim Errichten kleiner Bänke. Die restlichen Steine sind als Vorrat angelegt, der immer wieder für Ausbesserungen und zum Weiterbau auf dem großen Gelände genutzt wird.
Der Prozess des sorgfältigen Rückbaus sowie Reinigens und Aufstapelns der Steine nutzt nicht nur vorhandene graue Energie, er reduziert auch Bauabfall und Materialkosten. Durch die Partizipation der Genossenschaftlerinnen und Genossenschaftler am Bauprozess ihres eigenen Gebäudes und die kollaborativen Prozesse, die sich aus der Zusammenarbeit mit Handwerkerinnen und Handwerkern entwickelten, entstand zudem eine veränderte Akteurskonstellation auf der Baustelle. Wichtiger als Makellosigkeit, Neuheit und individuelle Urheberschaft wurden dadurch Materialien und deren natürliche Eigenschaften, Spuren der Geschichte und Kooperation. Der Erhalt, die Umnutzung und die Reparatur des Bestands mit vor Ort wiederverwendeten Backsteinen in diesem partizipativen Prozess folgen damit nicht nur der jahrtausendealten Tradition des Weiterbauens. Es ist ein gebautes, alternatives Narrativ für eine andere Praxis der Architektur: reparieren statt neu bauen – aus alt anders machen.