Backstein in Lateinamerika: Puristisch, pragmatisch, poetisch
Seit geschätzten 10.000 Jahren werden Tonbaustoffe verwendet – und das auf der ganzen Welt. Eine der hervorstechendsten Eigenschaften des Backsteins ist nun einmal seine Vielseitigkeit und Anpassungsfähigkeit an lokale Begebenheiten, das weiß man rund um den Globus zu schätzen. Der fokussierte Blick wiederum offenbart, dass sich interessante regionale Spielarten entwickelt haben. In Lateinamerika etwa haben Backsteinbauten eine lange Tradition und sind zugleich in der Gegenwart äußerst präsent.
Es sind zwei Eigenschaften, die den Backstein und seine nahen Verwandten, die luftgetrockneten Lehmziegel (adobe), von Mexiko bis Argentinien unverzichtbar machen: Zum einen die Speicherfähigkeit des Materials, die gerade in den tropischen Gegenden das Raumklima reguliert und positiv beeinflusst. Zum anderen ist Ton und Lehm vielerorts vorhanden; Ziegel sind einfach herstellbar und können ohne teure und komplizierte Technik verbaut werden. Nicht zufällig trifft man in den informellen Siedlungen am Rand der Metropolen und auch in ländlichen Gebieten häufig Backsteinhäuser an. Ein weiterer wichtiger Faktor: Der Backstein ist wie geschaffen für modulares Bauen. Die Häuser dürfen sich beim Wachsen Zeit lassen. Je nach Bedarf und finanziellen Mitteln kann man klein anfangen und schrittweise anbauen oder aufstocken.
Module zum Anpassen
Das macht sich das deutsch-mexikanische Büro Zeller & Moye zunutze. Die Architekt*innen haben einen Prototyp für preiswertes und klimaangepasstes Bauen in Mexiko entwickelt. Speziell für ländliche Gegenden in subtropischen Klimazonen entwarfen sie einzelne Raummodule, die an sich ändernde Lebenssituationen angepasst werden können. Die Einraumhäuser haben eigene Zugänge und bilden mit Terrassen und Patios Wohnensembles. Die begrünten und verschatteten Zwischenräume sind Teil der Nutzfläche. Anstelle von verglasten Öffnungen sind alle Fenster und Türen aus Bambusgittern hergestellt. Das belüftet die Räume und sorgt für Verschattung. Die Grundstruktur besteht wegen der Erdbebensicherheit aus einem Betonskelett, das mit selbst gefertigten und verbauten Lehmziegeln ausgefacht ist. Ein erstes realisiertes Beispiel ist die Casa Hilo in Coquimatlán von 2019, das „Modell“ soll aber auch an anderen Orten zum Einsatz kommen.
„Häkeldecken“ aus Stein
Ebenso simpel, ebenso überzeugend und doch ganz anders ist die Casa AR in Rosario, 300 Kilometer nordwestlich von Buenos Aires. Hier hat die Architektin Valeria del Vecchio ihren Bauherren 2017 zwei Wünsche erfüllt: ein ansprechendes Wochenendhaus innerhalb eines engen Budgets zu bauen. Die schlichte, rechteckige, eingeschossige Kiste besteht vollständig aus preiswertem, robustem Backstein; er prägt außen wie innen den Charakter des Hauses. Trotz des schlichten Auftretens sorgen die unterschiedlichen Mauerverbünde für eine unaufdringliche Abwechslung in der Wandabwicklung. An manchen Stellen lösen sich die doppelschaligen Wände in einschalige durchbrochene Abschnitte auf. Großmaschigen Häkeldecken gleich verleihen sie dem geerdeten Haus eine gewisse Leichtigkeit.
Reduzierter Ansatz – volle Ästhetik
Diesen reduzierten Ansatz trieben die Architekt*innen von Estudio Botteri-Connell in der Provinz Buenos Aires mit einem Wochenend-Pavillon noch auf die Spitze. Betonwände geben den Rhythmus des simplen Grundrisses mit vier identisch geschnittenen Räumen nebst Nasszellen vor. Alle Außenwände bestehen aus Backsteinpaneelen, die sandwichartig zwischen die Decken- und die Bodenplatte aus Beton eingeklemmt sind. In Stahlrahmen eingefasst, sind jeweils 55 ganze und 22 halbe Ziegel versetzt zu einem regelmäßigen Lochmuster angeordnet. Die Steine sind vorgebohrt und ohne Mörtel wie bei einem Steckspiel zusammengefügt. Das strenge Muster zaubert poetische Licht-Schatten-Spiele im Innenraum; abends leuchtet der Bau von innen heraus wie eine große Laterne. Hinter der Fassade verläuft an drei Seiten ein beinahe klösterlicher Gang. Zum Süden öffnen sich die Schlafräume über verschiebbare Wandelemente in den Garten.
Lo mejor posible
Die Beispiele zeigen eindrucksvoll, dass Backstein mit ganz einfachen Mitteln viel erreicht: klimagerechtes, günstiges und nutzerorientiertes Bauen, charaktervolle Gebäude und ganz unterschiedliche Raumatmosphären. Ein Beispiel zeigt besonders gut, welche Höchststandards Backstein im lateinamerikanischen Raum setzen kann: An der Peripherie von Mexiko-Stadt überzeugt das Nakasone Haus von Escobedo Soliz auf ganzer Linie. Das Haus ist in seiner Struktur aus einem Betonskelett mit unverkleideten Ziegelausfachungen ruppig-ehrlich und auf eigenwillige Weise ästhetisch anspruchsvoll. Es überzeugt mit seiner durchdachten Setzung, indem es sich zur Straße schützend schließt und zum Wohnpatio umso weiter öffnet. Es zeigt eine poetische Note durch die je nach Lichtsituation changierende Farbigkeit der Fassade – kurz: Die Jury des Fritz-Höger-Preises 2020 sprach dem kleinen mexikanischen Haus mit einem Grand Prix vollkommen zurecht eine der höchsten Auszeichnungen zu.