Tradition

Auf den Spuren von Erich Mendelsohn

Im Jahr 2021 gründete sich der Erich Mendelsohn Initiative Circle mit dem Ziel, die Rolle Mendelsohns in der Geschichte der Moderne zu untersuchen sowie das Potenzial seiner Werkes zur Nominierung als Weltkulturerbe zu beurteilen. Die Mendelsohn-Expertin und Mitinitiatorin des Initiative Circles Regina Stephan erklärt, was das Werk des Baukünstlers so besonders macht.

Regina Stephan ist Professorin für Architektur- und Stadtbaugeschichte an der Hochschule Mainz. Neben der Architekturgeschichte zwischen 1850 und 1950 im Allgemeinen bildet Erich Mendelsohns Leben und Werk einen besonderen Schwerpunkt ihrer Forschungen.

Nachdem der Name Fritz-Höger-Preis im Jahr 2022 abgelegt wurde, ist Preis für Backstein-Architektur dem Pionier der Moderne Erich Mendelsohn gewidmet. Auch im Architekturdiskurs ist das Erbe Mendelsohns präsent: So wird in Berlin seit 2017 die Bebauung der alten Tennisplätze im Innenhof des Woga-Komplexes diskutiert. Ziel ist es, dort nach Plänen von Chipperfield Architects nachzuverdichten. Ein aus Sicht des Denkmalschutzes nicht unproblematisches Vorhaben, wie Regina Stephan erklärt.


Frau Stephan, wie hat Ihr Interesse an Erich Mendelsohn begonnen?
Für meine Dissertation suchte ich ein Thema, das zeitlich näher lag als meine Magisterarbeit über ein barockes Schlösschen. Mein Vater gab mir die Eröffnungsschrift und den ersten Hausprospekt des von Erich Mendelsohn geplanten und 1926 eröffneten Kaufhauses Schocken in Stuttgart, dessen Abriss eine internationale Kampagne und die Proteste der Architekturstudierenden in Stuttgart 1959 nicht verhindern konnten. Es interessierte mich, weshalb diese Entscheidung so getroffen wurde, die ja heute ganz undenkbar wäre. Stuttgart trauert dem Bau bis heute nach. Es war eine absolute Fehlentscheidung.

Das Russell-Haus ist mit regionalem Redwood verkleidet – ungewöhnlich für Mendelsohns Werk, aber passend für San Francisco. Das Gebäude ist auf Stahlstützen aufgeständert, um einen besseren Blick auf die Bay und die Golden Gate Bridge zu ermöglichen.

Ähnlich international wie die Initiative war ja Mendelsohn selbst auch aktiv: Als Jude musste Mendelsohn Deutschland 1933 verlassen. Danach hat er in England, Palästina und den USA gebaut. Wie äußert sich sein Exil in seinem Werk?
Erich Mendelsohn war ein Architekt, der seine Bauten im Dialog mit deren Umgebung entwarf. Dazu zählte das städtebauliche Umfeld ebenso wie landschaftliche Gegebenheiten, Blickbeziehungen, klimatische Erfordernisse, regionale Bezüge und Baumaterialien. Jeder Bau Mendelsohns war ein Unikat, das genau für das Grundstück entworfen worden war, auf dem es realisiert wurde. Die Bauten sind – anders als Bauten zeitgleicher Architekten wie Mies van der Rohe oder Le Corbusier – nicht translozierbar. Dieser architektonische Ansatz, für den wir den Begriff der „rooted architecture“ entwickelt haben, bedeutet, dass die Architektur notwendigerweise in den Ländern des Exils anders aussehen musste als zuvor in Deutschland. Nehmen Sie als Beispiel die zeitgleichen Bauten in Großbritannien und im Britischen Mandat Palästina: Der De la Warr Pavilion in Bexhill-on-Sea ist zur Südseite, zum Meer hin, nahezu vollständig verglast. Das ist nachvollziehbar, denn in England sucht man die Sonne, kann sie genießen und muss sich nicht vor ihr schützen. Ganz anders die Bauten in Jerusalem und Rehovot. Bei diesen sind die Fenster klein, um so wenig wie möglich Sonne ins Haus zu lassen, Pergolen bieten weiteren Sonnenschutz, verschatten die Fassade. Und so geht das auch weiter in den USA, wo er zum Beispiel das Russell-Haus in San Francisco aufständert, auf äußerst eleganten Stahlstützen, damit die Eigentümer aus der dadurch um ein Geschoss erhöhten Wohnebene einen besseren Blick auf die Bay und die Golden Gate Bridge haben. Das Haus ist mit örtlichem Redwood verkleidet und damit sehr ungewöhnlich für Mendelsohns Werk aber eingepasst in die San Francisco Area.

Im mediterranen Klima Israels baut Mendelsohn anders als in West- und Mitteleuropa: Die Fenster beim Haus Weizmann in Rehovot sind klein, um so wenig wie möglich Sonne ins Haus zu lassen, Pergolen bieten weiteren Sonnenschutz und verschatten die Fassade.

Die Moderne hat einen weiten Spannungsbogen. Ist Mendelsohn einer einzelnen ihrer Strömungen zuzuordnen?
In der Architekturgeschichte sprechen wir subsummierend vom „Neuen Bauen“ der Weimarer Zeit, in der er eine führende Rolle innerhalb der Architektenschaft innehatte. Nach seinen expressionistischen Bauten der Anfangszeit wie dem Einsteinturm in Potsdam, der Hutfabrik in Luckenwalde oder dem Verlagshaus Mosse in Berlin, entwickelte er eine eigenständige Formensprache, die den Roaring Twenties im Berlin der 1920er-Jahre Ausdruck verlieh. Im Exil traf er in England auf ein Land, in dem die Moderne noch nicht denselben Stellenwert erlangt hatte wie im Deutschland der Weimarer Republik. Sein De la Warr Pavilion wirkte (und wirkt bis heute) in der Kleinstadt Bexhill-on-Sea wie ein gelandetes Ufo. Über Palästina habe ich schon berichtet. In den USA ab 1941 verschob sich sein Tätigkeitsfeld hin zu Synagogen und
Gemeindezentren. In der Erich-Mendelsohn-Initiative haben wir für seine Architektur das Begriffspaar „Rooted Architecture by an unrooted architect“ entwickelt. Damit soll zum Ausdruck gebracht werden, was ich schon beschrieben habe: Das Eingehen auf den Standort, sein Klima und seine landschaftlichen und städtebaulichen Gegebenheiten durch einen Architekten, der gezwungen war, ins Exil zu gehen.

Expressionistische Bauten aus Mendelsohns Anfangszeit wie das Verlagshaus Mosse verliehen den Roaring Twenties im Berlin der 1920er-Jahre Ausdruck.

Spiel mit Licht, runde Ecken aus Backstein: Was ist das Besondere am Umgang Mendelsohns mit verschiedenen Baumaterialien?
Seine Entwürfe – Handskizzen in 6B-Bleistift – wurden durch exzellente Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Baupläne übertragen. Ziel war immer, die Grenzen des Baubaren auszureizen. Nehmen Sie die eleganten, nach oben hin verjüngten Bogenbinder aus Stahlbeton in Luckenwalde, die Tragkonstruktion des Columbus-Hauses in Berlin mit dem Wechsel der Position der innenstehenden Stahlstützen in die Fassade, wodurch stützenfreie Büros entstanden, die dünnen Stahlstützen beim Russel-Haus, die sich nach vorne verjüngenden Balkone des Maimonides Hospitals in San Francisco. Sie sind gelungene konstruktive Wagnisse. Als Ostpreuße, der im Angesicht der Deutschordensburg in Allenstein aufwuchs, war ihm Backstein ein vertrautes Material. Gleichwohl verwendete er das Material auf eine ganz andere, innovative Weise, die zeigt, dass er z. B. Olbrichs Darmstädter Hochzeitsturm kannte und schätzte. Sein bedeutendster Bau in Backstein ist sicherlich die Hutfabrik in Luckenwalde, wobei dort der Backstein eigentlich nur die Füllmauern zwischen der Tragkonstruktion aus Stahlbeton bildet. Wie Mendelsohn diese gestaltet und zu expressiver Form führt – denken Sie an die vorkragenden Gebäudeecken und Sohlbänke – ist ganz neu und, soweit ich sehe, ohne Vorbild.


Mendelsohns Handskizzen sind legendär. Es heißt, er habe die Inspiration für seine Entwürfe aus Natur, Kunst, Musik und Philosophie …
Es gibt ein Foto von Mendelsohns Schreibtisch, auf dem Schneckenhäuser zu sehen sind, Naturwunder der Konstruktion. Wir kennen seine Skizzen, auf denen die Musikstücke stehen, zu denen er gezeichnet hatte, seine Schallplattensammlung, die Bücher, die er las und kommentierte. Es war ein ganzes Bündel an Inspirationsquellen, die zu seinen Entwürfen führte. Manchmal – oft – sind die Skizzen auch ohne Bezug auf ein Bauprojekt entstanden, einfach Studien zu einem Objekt, das ihn reizte, zu Musik, die ihn inspirierte.

Mendelsohn ließ sich von vielfältigen Inspirationsquellen zu seinen Entwürfen führen. Das Treppenhaus des Hauses des Metallarbeiterverbandes hat Ähnlichkeit mit den Schneckenhäusern, die Fotos zufolge auf Mendelsohns Schreibtisch zu finden waren.

Man gewinnt den Eindruck, Mendelsohn wird gerade wiederentdeckt. Würden Sie von einer Mendelsohn-Renaissance sprechen?
Die Mendelsohn-Rezeption hörte nie richtig auf. Seine, wenn Sie so mögen, „Renaissance“ ist schon seit geraumer Zeit im Gange. Spätestens die Erwerbung des Mendelsohn-Nachlasses durch die Kunstbibliothek Staatliche Museen zu Berlin 1975 gab der Forschung einen großen Schub, denn nun waren seine Briefe, Texte, Bücher, Skizzen, Fotos seiner Bauten, seine Diasammlung etc. für die Forschung zugänglich. In den 1980er- und 1990er-Jahren fing der Reigen der Dissertationen an, die sein Werk unter verschiedenen Gesichtspunkten beleuchteten. Erste Ergebnisse wurden in einer Ausstellung gezeigt. 2014 haben wir – die Kunstbibliothek, das Getty Research Institute und ich als Bearbeiterin – den transkribierten und kommentierten Briefwechsel zwischen Mendelsohn und seiner Frau Luise online publiziert. Alles ist verfügbar, seit 2023, 70 Jahre nach seinem Tod, auch der Skizzenbestand. Die Forschung stellt ihre Fragen zu seinem Leben und Werk immer wieder neu und findet in den reichen Beständen Antworten.