Projektvorstellung

Ästhetische Nachhaltigkeit in Neubauquartier

Mitten in Berlin, zwischen Wedding, Moabit und Mitte, lag lange Zeit eine Industriebrache. Heute entsteht hier die Europacity, ein neuer Stadtteil mit hochgesteckten Zielen von Nutzungsvielfalt bis Nachhaltigkeit. Zwei Gebäude stechen als Leuchtturmprojekte mit einer Auszeichnung beim Erich-Mendelsohn-Preis 2023 für Backstein-Architektur hervor.

Direkt am Berlin-Spandauer-Schifffahrtskanal gelegen schlägt der sanierte Kornversuchsspeicher eine Brücke zwischen Lehrter Güterbahnhof und Europacity.

„Aus dem Boden gestampft“ ist eine der beliebtesten Redewendungen im Diskurs über die Europacity. Nicht unpassend, wenn man bedenkt, dass das rund 61 Hektar große Areal nahezu Brachfläche war und dort quasi aus dem Nichts ein neuer Stadtteil mit 3.000 Wohnungen und Büros für 16.500 Menschen entsteht. Die Floskel suggeriert aber auch eine gewisse Aggression und Übereile, mit der die Bebauung vonstatten geht. Das Ergebnis eines solchen Aktes kann eigentlich gar nicht schön werden, wenn es immer nur schneller, höher und weiter gehen soll. Dabei ist zumindest die mitschwingende Kritik der Hast verfehlt: Die Planung der Europacity hat bereits 2006 begonnen und ihre Fertigstellung ist noch nicht absehbar. 

Es verwundert zudem wenig, dass eine Dauerbaustelle noch kein vor Leben strotzendes Quartier ist. Und trotzdem: In der Europacity wurden Gebäude als Pioniere an den Start geschickt, die dem selbstauferlegten Ziel, die bewährte Berliner Mischung zu reproduzieren, nicht gerecht werden. Vom Großteil der Gesellschaft werden die Bauten einfach nicht als schön angesehen. Versagt die ästhetische Nachhaltigkeit, ist das Projekt weder sozial, noch ökonomisch oder ökologisch nachhaltig. Dabei entsteht die Europacity gar nicht wirklich aus dem Nichts: Die wenigen Bestandsbauten, die Krieg und Bedeutungsverlust überstanden haben, sind mit ihren resilienten Backsteinmauern ein Brückenschlag zur Industrievergangenheit und ein charakterstarker Wegweiser, wie man Gebäude baut, die auch in hundert Jahren noch gefallen.
 

Resonanz erzeugen

Die Versäumnisse werden besonders deutlich im Kontrast zu solchen Projekten, die gelungen sind, die begeistern und die dafür sorgen, dass das letzte Wort über die Europacity noch nicht gesprochen ist. In den beiden Quartieren Heidestraße und Wasserstadt Mitte hat man gelernt, dass Lage allein nicht als Qualitätsmerkmal reicht. Auf jeweils eigene Art zeigen das QH Core und der sanierte Kornversuchsspeicher beispielhaft, wie man der großen Bauaufgabe begegnet, einem Neubauquartier Charisma zu verleihen. Beide nutzen Bestand und Historie als Anker, um dem Ort Bedeutung zu geben, beide erzeugen im Dialog mit dem Kontext Resonanzerfahrungen bei denjenigen, die dort wohnen, arbeiten oder im Vorübergehen die Architektur als Flanierkulisse wahrnehmen. Protagonist in dieser Kulisse ist der Backstein.

Die Materialkombination aus Backstein und Beton ist ein Wahrzeichen der Berliner Industriegeschichte.

Überführung in die Gegenwart

Bei der aufwendigen Sanierung und Transformation von 2018 bis 2023 orientierten sich AFF Architekten stark an historischen Aufnahmen: Der Wiederaufbau eines ursprünglich vorhandenen Dachgeschosses greift den Mauerwerksverband des Bestands auf, interpretiert diesen aber durch Rücksprünge neu. Obwohl der Dachaufbau von der Fassade über die Türrahmen bis zum Terrassenboden in Backstein-Rot gestaltet wurde und so den Bestand monochrom fortführt, bleibt das Neue durch seine reliefartige Struktur erkennbar. Durch die Integration von zwei Dachterrassen an den Längsseiten wird der Bürobau mit einem einmaligen Ausblick über die Europacity bis zum Fernsehturm aufgewertet.


Der sanierte Kornversuchsspeicher schlägt eine Brücke zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen alt und neu, zwischen Lehrter Güterbahnhof und Europacity. Die gelungene Überführung dieses historischen Baudenkmals in die Gegenwart wurde mit einer Special Mention beim Erich-Mendelsohn-Preis 2023 für Backstein-Architektur gewürdigt. Die Jury des Preises hat einen ihrer Schwerpunkte auf Sanierungsprojekte gelegt, da Konservierung und Weiterbau von Geschichte nicht nur eine Stärke des Backsteins sind, sondern der Umgang mit dem Bestand insbesondere unter Nachhaltigkeitsaspekten auch eine der aktuell größten Fragen der Architektur ist. Daneben steht als zweite große Frage diejenige nach bezahlbarem Wohnraum für alle. Eine der drei Auszeichnungen in Gold ist in dieser Kategorie ebenfalls in die Europacity gegangen: an den Gebäudeblock QH Core der Robertneun Architekten.

Mit seiner Backsteinfassade tritt das QH Core in den Dialog mit dem historischen Kornversuchsspeicher.

Auch auf den zweiten Blick steckt in dem Gebäude ein Verständnis für die Bedürfnisse Berlins: Es braucht nicht einfach Wohnraum, sondern qualitativen Wohnraum. Das ist die Erwartung an modernen, nachhaltigen Städtebau – eine Erwartung, die im Grunde durch die Orientierung an gründerzeitlichen Bauten europäischer Großstädte erfüllt wird. Dort gelingt Vielfalt und Lebensqualität über das klassische Prinzip der Kombination gewerblicher Nutzung im Erdgeschoss mit Wohnungen in den Obergeschossen.


Beim QH Core liegen im Erdgeschoss ein Supermarkt und eine Drogerie, Büroräume sind zur belebten Heidestraße und Wohnungen zur ruhigeren Seite ausgerichtet. So entsteht eine nachhaltige Architektur, die nicht nur einzelne Bausteine, sondern die gesamte Städteplanung betrachtet: Das Quartier als Ganzes strebt das Ideal der 15-Minuten-Stadt mit der typischen Berliner Mischung an, um die übergeordneten Ziele kurzer Wege und sozialer Durchmischung zu erreichen. In Großstädten wie Berlin ist dieses Konzept natürlicherweise gewachsen: Je nach Kiez müssen die Bewohner ihren Kiez eigentlich gar nicht verlassen: Supermarkt, Grünflächen, Café – alles, was man braucht, ist fußläufig erreichbar. Gerade bei ganzen Quartieren, die neu entstehen, wäre es ein Versäumnis, dieses Prinzip dem Zufall zu überlassen. Das QH Core hat mit seinen in die Backstein-Fassade eingelassenen Sitzbänken und großen Fensterfronten einen öffentlichen und einladenden Charakter und wird so zu einem Leuchtturmprojekt in der Heidestraße, das die Hauptstraße in eine Einkaufs- und Flaniermeile verwandelt.

Abgerundete Ecken und öffentliche Sitznischen bieten spielerische Details im Mauerwerk.